Freitag, 16. September 2016

„Wenn Sie Stotterer sind — wieso arbeiten Sie dann mit Sprachen?“

Diese Frage kann sich 90 Prozent meiner Gesprächspartner partout
nicht verkneifen - egal, ob ich bei einem Vorstellungsgespräch sitze
oder ob ich mich mit Bekannten am Lagerfeuer unterhalte.

Die Antwort darauf ist simpel:


1. Kein Mensch mit Handicap sollte davor zurückschrecken, etwas zu tun, was ihm Spaß bereitet. (Ja, es ist eine Floskel. Aber sie ist wahr.)


Ich gebe zu - nachdem ich meine Ausbildung abgeschlossen hat, bäumte sich die schier unüberwindbaren Hürden auf, von dem ein Berufsanfänger nicht einmal zu träumen wagte. Und doch beißt man sich durch und gelangt letztendlich - oft über Umwege - zu einer Chance, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
So trug es sich zu, dass ich schon in dem Jahr nach meinem Abschluss an der Übersetzung eines kompletten Films sitzen durfte; während ich mich noch tagtäglich zur Fachschule geschleppt habe, hätte ich mir das niemals vorstellen können.
Doch nicht einmal während meiner gesamten Ausbildung habe ich daran gezweifelt, dass das, was ich da gerade mache, in irgendeiner Weise falsch oder nicht der richtige Weg sein könnte.


2. Es gibt auch Radsportler ohne Beine und Musiker, die nicht hören können.


Diese Frage, die ich laufend höre, tut tatsächlich ziemlich weh.

Klar wäre es für mich günstiger, als Informatikerin im Hinterzimmer eines Unternehmens zu sitzen, bei Aldi in Regalen herumzukrauchen und Waren nach Mindesthaltbarkeitsdatum zu sortieren oder am Fließband einer x-beliebigen Produktionsfirma zu sitzen und, sagen wir, Kugelschreiber zusammenzusetzen - kurzum, einen Beruf zu lernen, bei dem ich möglichst wenig sprechen muss. Doch als es darum ging, zu entscheiden, was ich nach meinem Fachabitur machen möchte, war die Entscheidungsphase nicht besonders lang und die Zusage für die Ausbildung nach kürzester Zeit im Briefkasten. Das war sozusagen die Bestätigung für mich selbst, dass ich das wuppen kann; nichtmal zu einer Aufnahmeprüfung haben sie mich, anders als viele andere, zu sich bestellt.

Wie man sich denken kann, hätte ich, gäbe es noch Zensuren für Mitarbeit, nicht besonders gut abgeschnitten. Doch gelang es mir trotz des Sprachfehlers oft, mich einzubringen, auch wenn meine Aussprache einem platten Reifen auf Kopfsteinpflaster glich. Man stolpert dahin und steigt irgendwann ab, wenn es nicht mehr geht. Meine Mitschüler kannten das Problem vorher nicht, gingen damit aber freundlich und neutral um.
Auch wenn ich mündlich nicht fit war, hatte ich in schriftlichen Angelegenheiten (vor allem in deutschen Aufsätzen) meist die Nase vorn. Man muss wissen, dass jeder Stotterer ein beachtliches Repertoire an Synonymen abgespeichert hat - für den Fall, dass ein Wort mal klemmt. Mein damaliger Dozent beschrieb meine Ausdrucksweise als "besonders erfrischend". Das war dahingehend allerdings mein einziger Vorteil.

Vermutlich liest sich dies alles als nicht besonders bequem, aber ich kann jedem Leser versichern: Nicht einen Tag bereue ich meine damalige Entscheidung - und wenn man mir noch so viele Fragen stellt, es wird sich nichts daran ändern.


Donnerstag, 23. Juni 2016

Alltagsfädelei

Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der ich einmal wöchentlich in die (furchteinflößende,) hiesige HNO-Klinik musste. Meine Mutter war jedes Mal bei mir. Diese Klinik habe ich als eine einzige große Halle mit kleinen abzweigenden Zimmern in Erinnerung - so grob und wuchtig, wie sich eine Fünfjährige eine Klinik womöglich vorstellt. Wenn ich heute an dem Gebäude vorbeifahre, denke ich an kalte, kühle Kacheln und an  schwere, dunkle Holztüren. Ich war lange nicht dort drin.

Wir mussten durch die kleine Sparte bis ganz hinter in eine abzweigende Abteilung, über eine Treppe, und wenn ich mich recht erinnere, an Fenstern vorbei, vor denen Gitter waren. Und dann, wie als würde man von der einen Sekunde zur nächsten in ein völlig neues Gebäude eintreten, geriet man plötzlich in helle Räumlichkeiten. Durch Fenster konnte man draußen Sonne, Regen und Schnee beobachten und wenn ich zurückdenke, habe ich erst sehr viel später so richtig gerafft, wieso ich überhaupt dort war.
Eine freundliche Frau, die Frau E., bat mich und meine Mutter in ein separates Zimmer. Mama nahm immer auf einem Stuhl in der Ecke Platz. Sie sah zu. Manchmal sagte sie etwas. Ich weiß aber nicht mehr, was.
Ich durfte Bilder ausmalen, jede Woche eines, auf dem Abschnitte von einer Geschichte waren. Am Ende haben wir die Blätter zusammengeheftet und ich durfte mein selbstbemaltes Geschichtenbuch mit heim nehmen. Es ging um einen Bären und Beeren. Mehr blieb nicht hängen.

Es gab ein Puppenhaus - ich liebte Puppenhäuser; mein Vater hat mal selbst eins gebaut, so richtig mit Licht - und Frau E. bat mich,mit ihr in diesem Haus zu spielen. Ich sollte möglichst viel sprechen.
Schüchtern wie ich war, wollte mir keine gescheite Geschichte einfallen und mir fiel es sehr schwer, mich in dieses Spiel einzufuchsen. Vermutlich hätte ich besser mit diesem Puppenhäuschen spielen können, wenn ich völlig allein gewesen wäre.
Jedes Mal, als wir zum Ende der Stunde in der Tür standen um zu gehen, sagte mir Frau E., wir würden uns dann nächste Woche sehen. Ich habe mir als Kind darüber keine Gedanken gemacht - wieso auch. Es gehörte eben dazu. Die Praxisbesuche haben sich unbemerkt in meinen kindlichen Alltag eingefädelt.


Ein kleiner Zeitensprung. Neun Jahre später. Wieder laufe ich mit meiner Mutter durch die Klinik, über die Treppe, an den Gitterfenstern vorbei, in die wohl hellste Ecke des Gebäudes. Es sieht alles noch viel kleiner aus als früher. Aber gleichbleibend bekannt.

„Elisa!“
Es ist die erste Stunde nach einer sehr langen Unterbrechung.
„Schön, dass Du hier bist.“
„Danke, freut mich auch!“
„Geht es Dir gut?“
„Es geht, danke.“ Ich sah auf meine Hände und klemmte meinen Daumen in den Rest der Finger meiner linken Hand. „Morgen muss ich etwas vortragen. Ein G---.“ Da stockte es wieder. Ich dachte an den bevorstehenden Vortrag und in meinem Kopf formte sich das Bild, wie ich vor versammelter
Klasse stehe, die allesamt nicht richtig verstehen, warum ich so bin, wie ich bin.
„Was wird morgen sein?“ Ich sah sie an. Sie hatte ein Blatt Papier zurechtgeschoben und hob ihren Kugelschreiber nun langsam, um losschreiben zu können.
„Ein G—.“ Nichts. Ich sah auch schon gar nicht mehr in ihre Richtung, sondern wieder hinab zu meinen sich selbst knetenden Fäusten. Unter meinen Ohren spürte ich eine unheimliche Spannung, die fast wehtat. Meine Zähne waren so stark aufeinander gepresst, dass sich mein Kiefer völlig verkrampfte.
„Ein G— … Ein … Gedicht“, schloss ich endlich.
„Oh!“ Sie hob die Augenbrauen. „Das ist doch super!“
„Ja, super.“ Ich konnte nicht glauben, was sie daran so super finden konnte. Fast stieg die Wut in mir hoch.
„Hast Du gut geübt?“ Sie schielte zu meiner Mutter hinüber und ihr Mund kräuselte sich zu einem leichten Lächeln. Ich sah zu Mama, die nickte.
„Habe ich. Ich kann es auswendig. Aber was bringt es mir?“, sagt mein ausgelaugtes, pessimistisches Ich.
„Und wenn Du versuchst, dich darauf zu konzentrieren? Wenn Du probierst, Deine Umgebung für die paar Minuten abzuschalten. Probiere Deine Technik.“
Sie gab mir ein paar Sätze vor, die ich in verschiedensten Variationen nachsagen sollte. Halb gesungen, mit Pausen, … Ich plapperte alles nach. Das war nicht so schlimm.

Diese Zeit, als Jugendliche in der Therapie, erschien mir sehr kurz. Wenn mich heute jemand fragen würde, wie oft ich in dem Alter bei Frau E. war, würde ich mit vollster Überzeugung sagen ‚Einmal. Allerhöchstens zweimal.‘
Grund war eine Aussage ihrerseits, die mich verängstigt und erschüttert hat und von der ich jeder und jedem guten Logopädin bzw. Logopäden abraten würde.
Sie beugte sich über ihren Tisch zu mir und sagte: „Elisa, ich habe etwas mit dir vor.“ Das war nie ein gutes Zeichen. "Wir gehen beim nächsten Mal ein bisschen nach draußen, ja? Das ist eine gute Gelegenheit, ein paar Passanten nach der Uhrzeit zu fragen.“

Das war meine letzte Stunde bei ihr.

Montag, 30. Mai 2016

"Haben Sie ein Problem damit, dass ich stottere?"

Ich klopfte. „Entschuldigen Sie? Entschuldigung. Ich h---“
„Ist schon in Ordnung! Wir haben uns sowieso noch besprochen. Würden Sie noch einen Moment warten?“
„Sicher. Danke.“ Ich lief zurück auf den Flur, setzte mich mit bebenden Knien auf einen der Stühle unter das mit Zetteln überfüllte,schwarze Brett und knibbelte am Verschluss meiner Tasche, die miralle paar Sekunden vom Schoß zu rutschen drohte. Ich stellte sie ab. Das Geräusch eines klirrenden Schlüsselbundes klang den riesigen Flur hinunter und schon lief eine Frau mit Brille und streng gebundenem Haar den nächsten Flur entlang, der quer zu dem lag, indem ich saß und meine Beine zitterten. Mir wird kalt, wenn ich nervös bin. Erst jetzt bemerkte ich ein paar andere junge Leute, die - so vermute ich - aus dem gleichen Grund wie ich hier warteten. Sie starrten auf die Klemmbretter und Plakate gegenüber der tristen Stuhlreihe. Ich glaube aber, sie lesen gar nicht, was dort steht. Sie zermartern sich die Köpfe darüber, was ihnen bald bevorsteht - so wie mir.

„Frau Menzel? Bitte.“
„Danke.“

Ich nahm meine schwere Tasche vom Boden - sie wog in dem Moment doppelt so viel wie sonst - und schlurfte in den riesigen Besprechungsraum. Im Rücken merkte ich die neugierigen Blicke der anderen Wartenden. Oh Himmel. Kurz stand ich still. Neben dem, das mich eben zwinkerthineingebeten hatte, stierten sechs weitere Augenpaare in meine Richtung. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden lang ich so dastand, aber lang genug, dass die Augenpaare sich von meinen lösten und abwechselnd zu mir und dem leeren Stuhl am Kopfende des riesigen Tisches sahen. Nach kurzer Benommenheit steuerte ich auf die zweiletzten freien Stühle zu. Der mit dem vollen Wasserglas auf dem Platz müsste meiner sein.
„Frau Menzel.“ Der Raum war so groß, dass die Worte wiederhallten.
„Ja?“
Bohrende Blicke. Ab und zu lächelte jemand. Die Frau, die am weitesten weg von mir saß, eine dünne, etwas ältere Dame mit gekräuselten blond-grauen Haaren und einer bunten Kette aus Filzbommeln, grinsteganz besonders breit und klackerte mit ihren langen Nägeln auf demTisch.
„Wir möchten Sie in unserer Runde herzlich willkommen heißen und freuen uns, dass sie Interesse an der freien Stelle haben.“
„Danke! Ich — danke für Ihre Einladung.“ Mist!

„Wir werden uns jetzt der Reihe nach vorstellen und würden uns freuen, wenn Sie danach auch etwas über sich erzählen.“
Ich wusste nichts zu sagen, war wie gelähmt. Kurz wollte ich ansetzen, etwas zu erwidern wie ‚Alles klar‘, ‚Ist gut‘ oder ‚Na dann mal los‘. Aber das schien mir in einer Runde wie dieser irgendwie nicht angemessen genug. Und da ist es schon. Das Gefühl das kleinste Lichtunter der Horde hochherrschaftlichen Leuten zu sein. Unpassend. Aber so ist es leider.
Die Reihe stellte sich vor, Namen, Aufgaben, Abteilungsstandort. Ich hörte kaum zu. Es war, als hätte sich mein Kopf nach innen gekrempelt und die Umgebung außerhalb meiner Gedanken völlig ausgeblendet. Ich wusste aber, dass ich jeden einzelnen ansah, hinund wieder lächelte, aber nichts zu ihrer Rede kommentierte. Das wäre sicher auch nicht höflich gewesen. Was hätte ich auch sagen sollen.

Nun begann die junge Frau zu meiner Rechten zu sprechen. Ich hatte alle anderen Namen bereits vergessen und nachdem sie geendet hatte, auch ihren. Nun war ich dran.
Also. Was hatte ich gelernt. Fang bloß nicht beim Urschleim an. Niemanden interessiert, wo Du eingeschult wurdest und welche Instrumente Du spielen kannst.
„Ich bin damals, das war zweitausendelf, für eine Ausbildung nach Berlin gekommen. Als Fr--“
Stirnrunzeln. Eine kurze Pause. Eine legte den Kopf zur Seite. Ich knete meinen linken Daumen unter der Tischkante.
„Als Fremdsprachensekretärin.“
„Welche Sprachen können Sie?“ Als hätte niemand etwas bemerkt.
„Englisch--- und f--“
„Französisch?“
„Ja genau.“ Papiergeraschel. Ein paar notierten sich etwas auf den Bögen, die jeder vor sich hatte. Das Kratzen der Bleistifte auf den dünnen Blättern stach mir in den Ohren und jemand räusperte sich; ich runzelte die Stirn sah auf meine Hände. Mehr Konzentration.
„Nach meinem Abschluss im letzten Juni bin ich für dreizehn Wochen nach London gegangen und habe dort in einer Kanzlei im Stadtteil Westminster gearbeitet.“
Es geht doch.
„Das klingt gut! Sehr gut. Welche Aufgaben hatten Sie dort?“
„Ich war hauptsächlich mit schriftlichen Aufgaben beschäftigt. Mit Unterlagen der Anwälte und Botengänge und solche --- und sowas.“
Es geht doch nicht. Von da an blockierte die Sprache vollends. Jemand nutzte die zwangsläufige Pause und hakte noch bezüglich meiner Ausbildung nach; welche Fächer ich hatte, wie ich mich selbst einschätzte und diese ganzen Sachen, die wohl bei jedem Vorstellungsgespräch gefragt werden.

Auch die Fangfrage musste zwangsläufig irgendwann kommen: „Was würden Sie tun, wenn ich Sie bitten würde, mich in der nächsten Stunde nicht zu stören, weil ich in einer wichtigen Besprechung bin - und jemand riefe an und würde mich sehr dringend sprechen wollen?“
Und da haben wir es schon. Zwei Dinge, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann: Telefonieren und stören. Diese Frage hat mich so aus der Bahn geworfen, dass ich gar nicht mehr genau weiß, was ich eigentlich geantwortet hatte. Ich glaube, ich hätte einen unkomplizierten Mittelweg finden wollen. Aber vor allem wollte ich mit solchen Unannehmlichkeiten erst gar nichts zu tun haben. Ich wollte mit niemandem telefonieren. Und niemanden stören. Und mit niemandem sprechen. Nicht sprechen. Warum bin ich eigentlich hier?

Ich merkte, wie sich dieses Gespräch über mich, meinen holprigen Werdegang und dem Worst Case-Szenario dem Ende näherte und derjenige, der mich zu Anfang hineinbat, erkundigte sich nach etwaigen Fragen.
Was hatte ich gelernt… Fragen stellen macht einen guten Eindruck.
„Ja. Ich würde gerne noch etwas wissen. Arbeitet man hier an der Universität in Gleitzeiten oder gibt es festgelegte Arbeitszeiten?“ Der Satz klappte tatsächlich erstaunlich gut. Und doch wich ich meiner eigentlichen Frage aus. Die Luft schien zu brennen, denn jeder- und ich meine wirklich jeden, denn die Leute hier sind sicherlich nicht taub - hätte eine andere Frage vermutet. Der Mann zu meiner linken erklärte mir die Arbeitszeiten, wie ich es erfragt hatte. Als er geendet hatte, sah er mich an. „Noch eine Frage?“
„Ja.“
Ich ließ meinen Daumen nun los, sodass das Blut unter meinem Nagelwieder in die Gefäße schoss. Mein Herz schlug mir bis unter die Schädeldecke und mir war unheimlich kalt. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich die Menschen in der Runde gar nicht ansah und ich hob meinen Blick, um die der mir gegenübersitzenden ja nicht zu verpassen.

„Haben Sie ein Problem damit, dass ich stottere?“